Psychoanalytische Wissenschaftsgeschichte

An dieser Stelle soll die Entwicklung der psychoanalytischen Wissenschaft mit den Namen einiger herausragender Psychoanalytiker und ihren klinischpsychoanalytischen Erkenntnissen dargestellt werden. Das psychoanalytische Denken ist nicht einheitlich. Es besteht aus Formulierungen von unterschiedlichen Abstraktionsgraden und verknüpft hochelaborierte wie auch kontroverse Konzepte miteinander. Auf diese Weise ist eine Theorie von großer Flexibilität und Elastizität entstanden. Darin erweist sich die bis heute bestehende Lebendigkeit psychoanalytischen Denkens und der klinischpsychoanalytischen Forschung.

Grundlagen der psychoanalytischen Wissenschaft sind die psychoanalytische Methode, die Entdeckung der Bedeutungen des Unbewußten, der infantilen Sexualität, die in den Ödipuskomplex mündet, die kindliche Abhängigkeit von den Primärobjekten, d. h. von Personen, die für das Überleben des Säuglings bzw. Kleinkindes die Verantwortung haben. Den Primärobjekten gegenüber entwickeln sich primitive Affekte, Phantasien und Abwehrmechanismen, die zusammen mit der Sorge der Primärobjekte um das Kind die Basis für die Entwicklung der menschlichen Psyche sind. Grundlegende Konzepte Freuds sind die Triebentwicklung, die Strukturtheorie von Es, Ich und Über-Ich, eine darauf fußende Konflikttheorie und Krankheitslehre. Neben S. Freud zählen zu den ersten Pionieren der Psychoanalyse Karl Abraham und Sándor Ferenczi. Abraham hat wichtige Erkenntnisse zum Verständnis der Triebentwicklung und der melancholischen Depression beigetragen. Ferenczi hat sich vor allem für die Analytiker-Patienten-Beziehung interessiert und deren eminente Bedeutung für den psychoanalytischen Prozeß aufgezeigt. So wurde – wie der Ferenczi-Schüler Michael Balint formulierte – aus der Ein-Personen-Psychologie die Zwei-Personen-Psychologie. Balint – wie Ferenczi Ungar – hat sich ausgehend von seinem Konzept der primären Liebe eingehend mit der frühen Objektbeziehung beschäftigt. Balint hat mit einer besonderen Methode die spezifische psychoanalytisch-klinische Wahrnehmung für andere Berufsgruppen erfahrbar gemacht.

Nach der Flucht Freuds aus Wien kam es in London unter der Führung von Anna Freud und Melanie Klein zu einer kontroversen Entwicklung innerhalb der psychoanalytischen Gemeinschaft, die sich später als ausgesprochen fruchtbar erwiesen hat. A. Freud und M. Klein gingen von ihren klinischen Erfahrungen mit Kindern aus, die auf einer je eigenen Behandlungstechnik gründen. Von A. Freud ist vor allem ihre Ich-psychologische Entwicklungslehre und die differenzierte Erfassung neurotischer Abwehrmechanismen bekannt, wie z. B. Verdrängung, Projektion, Identifikation, Reaktionsbildung, Isolierung, Wendung gegen die eigene Person und andere. M. Klein beschreibt das psychische Leben des Kleinkindes als Ausdruck unbewußter Phantasien, die immer auch primitive Objektbilder und archaische Ängste umfassen, die auf die Mutter projiziert und reintrojiziert werden. Mit Hilfe von Spaltung, Idealisierung und der projektiven Identifikation sucht das Kleinkind bedrohliche Verfolgungsängste in der sogenannten paranoid-schizoiden Position, depressive Zerstörungsängste in der depressiven Position zu bewältigen. Damit wurde die Erfassung der frühen Objektbeziehung neben der klassischen Triebpsychologie wegweisend für die weitere Entwicklung psychoanalytischen Denkens.

Ausgehend von Wiener Analytikern, von denen viele in die Vereinigten Staaten emigrierten, wurde die psychoanalytische Erforschung der Entwicklung des Ich vorangetrieben, bekannt als die sogenannte Ich-Psychologie, die mit den Namen Nunberg, Hartmann, Kris und Löwenstein verbunden ist.

Neben A. Freud und M. Klein entstand in London eine dritte Richtung psycho-analytischer Forschung, die Objektbeziehungs-Theorie, deren bekannteste Vertreter neben dem schon genannten M. Balint der Kinderanalytiker D. Winnicott und R. Fairbairn sind. Der Begriff Objektbeziehung bezeichnet die durch unbewußte Wünsche und Ängste veränderte Beziehungserfahrung mit anderen Personen, insbesondere die Beziehung zu den Eltern als den ersten Bezugspersonen des Kindes. Als verinnerlichte Erfahrung und unbewußte Phantasie bestimmt sie das Interaktionsverhalten und gibt ihm Sinn und symbolhafte Bedeutung. Psychoanalytische Veränderungsarbeit vollzieht sich also vorwiegend an inneren Objekten, nicht unmittelbar an der Realität selbst.

Fairbairn sieht die Grundproblematik in der frühen absoluten Abhängigkeit des Kindes von der Mutter. Er ist überzeugt, daß das Kind von Geburt an objektsuchend ist und Zurückweisungen der Mutter mit größter Sensibilität wahrnimmt. Mit Winnicott wird vor allem die bedeutsame Entdeckung des Übergangsobjektes und des Übergangsraumes verbunden. Auf dem Boden dieses dritten Bereiches zwischen Subjekt und Objekt fußt nach Winnicott die Fähigkeit zum symbolischen Denken, zur Kreativität und jeder kulturellen Entwicklung.

Über die schon erwähnten Kinderanalytiker hinaus muß R. Spitz genannt werden, der neben der Beschreibung des kindlichen Hospitalismus frühe Organisatoren in der seelischen Entwicklung des Kleinkindes benannt hat: die soziale Funktion des Lächelns, das Erkennen des fremden Gesichtes, die Achtmonatsangst und das Kopfschütteln als erstes Nein. Auch J. Bowlby hat extensiv die Bindungs- und Trennungserlebnisse und -verarbeitungen des Kleinkindes erforscht. In Amerika ist die Objektbeziehungstheorie mit den Namen Sullivan, Jacobson und Erikson verbunden.

Neben die Ich-Psychologie trat zunehmend die sogenannte Selbst-Psychologie, deren wichtigster Vertreter Kohut ist. Für die Entwicklung der Psyche ist der Gebrauch der Selbst-Objekte von Bedeutung, womit gemeint ist, daß in einer frühen undifferenzierten Phase das Objekt, d. h. vor allem die Mutter, noch als dem Selbst zugehörig erlebt wird. Neben anderen hat sich Margret Mahler ausführlich mit der Differenzierung des Selbst vom Objekt unter dem Terminus Separations- und Individuationsentwicklung befaßt.

Mit diesen Konzepten werden psychische Störungen eher auf der narzißtischen als auf der Trieb- und Konfliktebene begriffen; es geht um Störungen des Selbstwertgefühls und -erlebens, der Identität, Separation und Individuation, der Kohärenz, also der Integrität und Kontinuität der Selbst-Organisation als übergeordnetem Ziel aller Menschen. Die Probleme der Entwicklung des Kindes bzw. jungen Menschen zum Erleben und zur Fähigkeit einer autonomen Selbstbestimmung, für die eine Differenzierung zwischen Selbst und Objekt mit der Polarität zwischen Individuation und verschmelzender Einheit Voraussetzung ist, sind noch umfassender und in der Entwicklung früher angesiedelt als die psychosexuellen Konflikte des ödipalen Kerns der Neurose, bleiben aber immer dessen Bestandteil.

Mit der Abgrenzung des Selbst vom Objekt wurde die Problematik des patho-logischen und gesunden Narzißmus genauer beschrieben, wobei die psychoanalytischen Konzepte (Grunberger, Kernberg, Kohut) zum Teil differieren.

Unter Lacan hat sich in Frankreich ein spezifisches psychoanalytisches Denken entwickelt, das als strukturalistisch bezeichnet wird. Lacan hat seine Konzepte nicht zuletzt von dem Strukturalismus des Linguisten de Saussure hergeleitet. In diesem Zusammenhang ist auch der Strukturalismus des Ethnologen Lévi-Strauss zu nennen. Neben Lacan haben Laplanche, Leclaire, Pontalis, Green und andere das psychoanalytische Denken enorm befruchtet.
Ein dritte Linie, die bis heute die psychoanalytische Klinik und Wissenschaft angeregt und befruchtet hat, geht von dem englischen Analytiker W. Bion aus. Er beschäftigt sich vor allem mit der Frage, wie Gedanken und das Denken auf dem Boden früher Objektbeziehungen und den damit verbundenen Affekten entsteht. Bion hat in seiner Theorie des Denkens darauf hingewiesen, daß das Kind für seine psychische Entwicklung ein Objekt braucht, das ihm als Container für die noch nicht verdauten Affekte zur Verfügung steht.

Zuletzt soll noch die moderne Säuglingsforschung erwähnt werden, die als ein Ausläufer der Ich-Psychologie und Objekt-Psychologie angesehen werden kann und mit den Namen Brazelton, Emde, Lichtenberg und Stern verknüpft ist. Die Säuglingsforscher gehen davon aus, daß schon der Säugling ein aktives, kontaktsuchendes und Interaktion stimulierendes Wesen ist.

Auf die psychoanalytische Forschung kann hier nicht mehr eingegangen werden. Derzeit hat eine Gruppe von DPV-Analytikern eine naturalistische, retrospektive Katamnesenstudie psychoanalytischer Langzeitbehandlungen (d. h. die Befragung von Patienten frühestens drei Jahre nach Abschluß der Behandlung mittels Fragebögen und psychoanalytischer Interviews) initiiert. In der bisherigen Psychotherapieforschung wurden Ergebnisse von Langzeitbehandlungen durch sogenannte objektive Kriterien (wie z. B. Symptomveränderungen, angegeben in Tests und Fragebogen) und Außenbeobachter (Einschätzungen des Therapieerfolgs durch Behandler oder Außenbeobachter) beurteilt. Die Sicht der betroffenen Patienten selbst wurde zu wenig differenziert erforscht, ist aber wohl eines der entscheidenden Kriterien bei der Erfolgsbeurteilung von Therapien.